Bäutel

 

In Köln, im Restaurant Fleischmann, Gummi & Bleistift, verliert Detektiv Bäutel während eines Abendessens mit einem Kunden seine linke Gesichtshälfte. Plötzlich fällt sie auf den Tisch. Der Kunde, er heißt Jotze, Versicherungsvertreter, erläutert gerade seinen Auftrag [Beschattung seiner Frau Sabine Jotze in Eupen] und ignoriert Bäutels linke Gesichtshälfte, die zunächst schlaff auf der Tischplatte liegen bleibt, dann aber zum Rand rutscht und hinunter fällt. Später, auf dem Weg ins Büro fühlt Bäutel vorsichtig über sein halbiertes Gesicht.

 

Am nächsten Tag. Bäutel fährt nach Eupen. Er soll herausfinden, warum Sabine Jotze  so oft in die Fleischhalle geht. Jotze und seine Frau leben getrennt, er in Köln, sie in Eupen, wo sie ein Tapetenkabinett betreibt. Sie treffen sich am Wochenende. Über Mittelsmänner hat Jotze erfahren, daß seine Frau von Montag bis Freitag mehrmals täglich in die Eupener Fleischhalle geht. Jotze ist  eifersüchtig. Vor Eifersucht wird Jotze von der Weißglut ergriffen. Ein weißglühend wabernder Versicherungsvertreter. Demoliert, zersplittert, gespalten, auseinandergeborsten, zerrissen vor Eifersucht, das ist Jotze. Kaum ist Bäutel einige Schritte in die Fleischhalle eingedrungen, da verliert er seine rechte Gesichtshälfte, wie ein nasses Taschentuch fällt sie auf den blutigen Boden der Fleischhalle und springt im hohen Bogen fort, durch das Eupener Straßengewirr und landet in einem Kräutergarten, wo sie mit einem stechenden Knall explodiert. Bäutels linke Gesichtshälfte dagegen war zwischen den Stuhl- und Tischbeinen und den Beinen der Gäste des Restaurants Fleischmann Gummi & Bleistift lautlos verpufft.

„Explodieren und verpuffen - ein Dosier anlegen“, denkt Bäutel trotz der unhaltbaren Situation, kurz hintereinander beide Gesichtshälften zu verlieren.

Atemlos erreicht er den Kräutergarten, ein von einer Ziegelmauer umschlossenes Grundstück mit verschiedensten ineinander verschlungenen Ranken, Rispen und duftenden Knospen. Seine rechte Gesichtshälfte ist fort. Die Explosion hat sie völlig zerfetzt. Nicht der kleinste Splitter ist zu sehen.

Nach dem Verlust seiner kompletten Gesichtshaut präsentiert Bäutel im Eupener Kräutergarten zum erstenmal sein Maskengehacktes. Bäutel haßt Kräutergärten. Bäutel hat schon viele Kräutergärten verwüstet. Auch während anstrengenster Ermittlungen hat Bäutel immer noch Zeit, Kräutergärten zu verwüsten. Anstelle eines von einer Gesichtshaut zusammengehaltendes Gesicht trägt Bäutel nun ein offenes, gesichtshautloses Gesicht, kleine, zuckende Muskeln mit den darin rotierenden Augen wie steuerlose Boote in cremiger See. Bäutel zieht einen Rückspiegel heraus. Stets hat Bäutel einen Rückspiegel dabei, ein wichtiges Beschattungsinstrument. Er betrachtet sich. Seine stechenden Hyänenaugen in dem gesichtshautlosen Gesicht. „Mein Maskengehacktes!“ schwärmt Bäutel, klappt den Rückspiegel zusammen, verwüstet den Kräutergarten und macht sich auf den Weg zurück zur Fleischhalle. Er fällt nicht auf. Sein Maskengehacktes wirkt ganz natürlich. Im Gegensatz zu seinen stechenden Hyänenaugen, die sich überall festkrallen. Die Leute auf der Straße fürchten sich. Von Bäutels Detektivblick fühlen sie sich gemartert, als wären sie in einen Schwarm Wurfpfeile geraten. Wenn Bäutel das will. Er kann  seine Augen auch sanft umstülpen wie milde Kuhaugen.

Bäutel erreicht die Fleischhalle. Hinter einem Stapel Schlachtschürzen richtet er sich ein, zückt seinen Rückspiegel. Er fühlt sich wohl. Die Fleischhalle dampft. Bäutel ist ein schmieriger Spanner. Und eine Spektakelsau. Wenn er mit seinen Ermittlungen nicht weiter kommt. Dann knattert er mit seiner Hyänenhaut, stellt seine Augen auf scharf stechende Hyänenaugen ein, peitscht dazu mit seinem gurgelnden Hyänenschwanz oder imitiert eine Selbsterdrosselung. Öffentlich. Aber heute sitzt er ruhig hinter den Schlachtschürzen in der Eupener Fleischhalle. Der Fleischhallenangestellte hantiert mit  Besen und Kehrblech. Die Geräusche hallen wieder in der nachmittäglichen, leeren Fleischhalle. Der Fleischhallenangestellte zieht sich aus. Er ist bleich und fleckig. Bösartig mustert Bäutel den faden Körper des Fleischhallenangestellten. Sabine kommt mit einer Tapetenrolle. Bäutels Ermittlungen sind erfolgreich. Sabine trifft sich mit dem Fleischhallenangestellten.  Sabine entrollt die Tapete. Der Fleischhallenangestellte ist entzückt. Er braucht dringend eine Tapete und diese hier ist sehr passend. Ohne Tapete sieht der Fleischhallenangestellte nach nichts aus. Er ist zu bleich. Die Tapete ist mit einem Zangenmuster bedruckt. Der Fleischhallenangestellte bittet Sabine, ihn zu tapezieren. „Jetzt!“ fleht er. Bäutel keucht in seinem Versteck. Sabine tapeziert den Fleischangestellten. Erst streicht sie ihn an mit einem Leimquast. Dann klebt sie. Der Fleischhallenangestellte aalt sich in seiner neuen Tapete. Das Zangenmuster macht aus ihm eine Raubkatze. Die beiden verlassen die Fleischhalle. Sabine schwebt geschmeidig, feucht und lautlos schleicht der Fleischhallenangestellte neben ihr her. Heute noch wird Bäutel nach Köln zurückfahren und Jotze alles berichten. Daß seine Frau in Eupen Fleischhallenangestellte tapeziert.

Bis zum Einbruch der Nacht treibt sich Bäutel am Bahnhof herum. Er knattert mit seiner Hyänenhaut, stochert in seinem Maskengehackten. Er ist aufgewühlt von dem Fall Sabine Jotze. Auf seine schmierige Art presst sich Bäutel an die Rückwand des Bahnhofs. Dann steigt er in den Nachtzug.

1994 – 2009

 

 

 

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