Bruce, Portland, Kriminalheft

Köln – Portland GB – Gotha – Düsseldorf 

 

1

Bruce war ein brutaler Mann mit kahlem Schädel, vierschrötigem Nacken und einer schmierigen Mimik aus stechenden Augen, gebrochener Nase, ausgefransten Ohren, rotem Zuckermund und dem berühmten Kinn.

Er trug drei Kleidungsstücke: einen Jeansmantel, eine enge Lederhose mit Nietengürtel und ein Paar Stiefel.  Der Jeansmantel war von verschlissenem Blau, die ockerfarbene Lederhose wurde seitlich mit Ösen und Bändern geschnürt, die hochhackigen Stiefel hatten beschlagene Absätze und eingearbeitete Raubvogelkrallen. Der Nietengürtel wurde von einer lippenförmigen, übergroßen  Plastikschnalle zusammengehalten, die Bruce oft auf- und zuschnappen ließ. Bruce war ein Mann aus eisernem Muskelfleisch. In seinen Manteltaschen steckten Zigarren, spitze Bambusstäbe und Frauenillustrierte.

 

2

An einem Abend ging Bruce im offenen Jeansmantel durch die Straßen  von Weymouth.  Es regnete, es stürmte, es war kalt und  das Meer rollte gegen den Strand. Bruce trat ins Stacy’s ein,  einem Club an der menschleeren Esplanade. Auch das Stacy’s  war leer, bis auf die blonde Kellnerin, zwei  rauchenden Männern  an der Bar und einer dezenten Dame mit schwarzen Haaren, weißem Scheitel und einem Mikroskop. In der Mitte des hohen Raumes stand ein Aquarium mit trägen Fischen und einer Schatzkiste, aus der ein Skelett heraus winkte. Bruce fiel in einen breiten Ledersessel und zündete sich eine Zigarre an, eine zwanzig Zentimeter lange, gelb schwelende Cochiba. Seine stechenden Augen schwammen zwischen den Männern, der Kellnerin, dem Aquarium und der dezenten Dame mit dem Mikroskop hin und her. Keiner sprach ein Wort. Die behagliche Clubatmosphäre verflog. Die Kellnerin hatte Angst. Sie wurde fahl. Teilnahmslos schaute die dezente Dame in ihr Mikroskop. Unbeweglich lag Bruce in seinem Sessel. Draußen fauchte der Sturm. Eine Tonne rollte vorbei. Es war kurz vor Mitternacht.  Schlotternd in ihrem zarten Kleid krallte sich die Kellnerin am Zapfhahn fest, riß Augen und Lippen auf, verdrehte Hals und Beine in panischem Entsetzen. Langsam rotierten die Schwaden aus Bruce’ Cochiba durch den Raum. Die Männer stiegen von den Barhockern herunter. Im Stacy’s breitete sich eine kalte Panik aus. Die dezente Dame verschob den Objektträger des Mikroskops und  verstellte das Okular, schaute aber nicht auf.  Die sonst so warme Beleuchtung des Stacy’s flackerte. Die fahle Kellnerin hielt Augen und Lippen weit aufgerissen. Bruce erhob sich. Das berühmte Kinn hing unter seinem Zuckermund wie ein scharfkantiges Felsengebirge. Er reckte es. Die Männer feixten. Bruce ging zum Aquarium und betrachtete die Fische, die Schatztruhe und das winkende Skelett. Plötzlich erlosch das Licht bis auf eine trübe Notbeleuchtung. Das kalte Entsetzen steigerte sich zu einem lähmenden Grauen. Die  Männer bewarfen Bruce mit ihren brennenden Zigaretten und grunzten. Bruce schnippte die Zigaretten von seinem Jeansmantel, holte aus, schlug beide Männer gleichzeitig mit seinem berühmten Kinn nieder und tauchte  sie so lange ins Aquarium, bis sie alle Fische verschluckt hatten einschließlich Wasser, Schatztruhe und winkendem Skelett. Augenblicklich entspannte sich die Kellnerin, schloß ihre Lippen, blinzelte, ihr blonder Schimmer kehrte zurück, und sie lachte auf.  Im Aquarium war jetzt nur noch Schlamm mit matschigen Pflanzen, und die Männer krümmten sich auf dem Boden des Stacy’s mit dicken, pulsierenden Wasserbäuchen.  Das warme Licht ging wieder an. Die behagliche Clubatmosphäre kehrte zurück.  Die Männer spuckten und würgten. Rachgierig glotzten sie Bruce an, fielen aber immer wieder mit ihren Gesichtern in die Pfützen. Die dezente Dame bekam von alledem nichts mit, als wäre sie mit ihrem Mikroskop verwachsen. Bruce  ging hinaus in den Regen, wo die zur Hälfte gerauchte Cochiba augenblicklich erlosch, während die aparte Kellnerin mit schallendem Gelächter die Fische wieder aus den Männern herausdrückte, denn es waren wertvolle Zierfische,  und auch  die Schatztruhe und das winkende Skelett klaubte sie den beiden aus dem Rachen.

 

3

Bruce ging zur Straßenbahnhaltestelle durch den kalten Sturm, mit singenden Absätzen. In seiner Manteltasche klirrten die Bambusstäbe. Er brauchte dringend eine Frauenillustrierte. Er stand an der zugigen  Straßenbahnhaltestelle und reckte sein berühmtes Kinn in die Nacht. Ließ seine Gürtelschnalle auf- und zuschnappen. Die schmierige Mimik verzerrte sein Gesicht. Der Sturm schleuderte Netze, Seile und  Füchse durch die Straßen.  Die Füchse prallten gegen das berühmte Kinn und fielen betäubt auf den Boden. Es war lange nach Mitternacht. Alle Lichter in Weymouth waren erloschen. Die Straßenbahn kam. Ein einziger hell erleuchteter Wagen, der plötzlich mit funkensprühendem Stromabnehmer aus der Dunkelheit auftauchte und scharf bremste. Bruce stieg ein. Die Masse seines eisernen Muskelfleisches drückte die Straßenbahn tief in die Gleise.  Kreischend fuhr sie an. Bruce war der einzige Fahrgast. Die Fahrerin klingelte, kurbelte und rief, „Was für ein Kinn!“

Sie hatte rote Locken, trug eine preußischblaue Uniform mit silbernen Knöpfen und war sehr klein. Neben  Bruce, der mit seinem eisernen Muskelfleisch die vordere Hälfte der Straßenbahn ausfüllte, wirkte sie wie ein Kind. Die Straßenbahn  verließ Weymouth, näherte sich dem Chesil Beach  Richtung Portland auf ihrer Fahrt nach Portland Bill. Bruce  beugte sich zur Fahrerin hinunter.  Sie stöhnte auf. Er kannte dieses Stöhnen aus früheren Tonbandaufzeichnungen. Eine  Mischung aus Horror und grausamer Lust.  Pausenlos ließ sie die Kurbel vor- und zurückschnellen, stöhnte und schlug mit geballter Faust nach dem Klingelknopf. Sie hörte mit dem Stöhnen erst auf, als Bruce ihr leichte Fragen stellte.

„Wie alt sind sie?“

„Sind Sie ein Waisenkind?“

oder,

„Wie heißen Sie?“

„Sally,“ anwortete sie spöttisch, während sie sich auf  die regennassen Schienen im Lichtkegel des Straßenbahnscheinwerfers konzentrierte.

„Sally,“ wiederholte Bruce,  schürzte seinen Zuckermund und ließ die Gürtelschnalle auf- und zuschnappen. Ein öliges Grinsen steigerte seine schmierige Mimik zu einem bösartigen Grienen, was Sally nicht daran hinderte, nach dem berühmten Kinn zu greifen und daran zu rütteln. Bruce riß es ihr aus der Hand und reckte es drohend, als wolle er die Fensterscheiben zertrümmern. Sally kicherte. Die Straßenbahn fuhr durch Fortuneswell, Chiswell und Weston, spärlich erleuchtete  Dörfer in der Nacht. Die kreischenden Räder in den Schienen verspritzten Feuerkerne, die den platzenden Funkenregen aus dem Stromabnehmer bombardierten. Bruce’ Zuckermund und Sallys  Locken blühten rot im grellen Licht der Straßenbahn.

„Keine Fragen mehr, Mister ... ?“ Sally blickte kurz auf. An der Crown Farm erhob sich eine Kuhherde von den Gleisen und rutschte hinunter in die Dunkelheit. Sally kurbelte und hüpfte über den Fahrersitz wie auf einer Schaukel. In Easton stieg Bruce aus. Sally klingelte zum Abschied und winkte mit dem Stromabnehmer, daß ein Funkenregen auf Bruce niederprasselte. Die Straßenbahn verschwand in der Nacht Richtung Portland Bill.

 

4

Bruce ging durch die Straßen von Easton. An einem Nachtschalter kaufte er eine frisch gedruckte Frauenillustrierte. Er steckte sie zu den Bambusstäben in die Manteltasche. Er betrat das  Hotel The Twirl. In seinem Zimmer schaltete er den Fernseher ein.  Er zog Hose und Jeansmantel aus. Er nahm einen Bambusstab und die Frauenillustrierte aus der Manteltasche und kippte aufs Bett. Seine Stiefel ragten über die Bettkante hinaus. Er war am ganzen Körper mit Raubvogelmotiven tätowiert, mit Habichten in rasenden Sturzflügen, mit kreisenden Adlern, aasverklebten Geiern, rüttelnden Bussarden und tauchenden Weißkopfadlern, mit Bildern aus der Falkenjagd: Riemen, Hauben,  Schellen,  Federspiel, und immer wieder scharf gebogene, metallisch funkelnde, hackende und ineinander verhakte Schnäbel und kunstvoll verdrehte, blutige Krallen. Unter den Raubvogeltätowierungen spannte sich sein eisernes Muskelfleisch.  Die einzige Lichtquelle in dem Zimmer war der laufende Fernseher. Bruce reckte sein berühmtes Kinn und begann die Frauenillustrierte zu essen. Er riß eine Seite heraus, rollte sie mit dem Bambusstab zu einem Röhrchen, knetete das Röhrchen zu einem kleinen Kissen, spießte das Kissen mit der Spitze des Bambusstabes auf und stieß es in seinen Zuckermund. Dann verschluckte er es. Seite für Seite, bis er die ganze Frauenillustrierte einschließlich Umschlag und Werbebroschüre für wasserfesten Eyeliner aufgegessen hatte. Er leckte den Bambusstab ab. Danach schlief er ein.  Der Fernseher lief weiter. Das blaue Licht huschte über das tätowierte, eiserne Muskelfleisch. Bruce schlief unruhig. Bruce, der brutale Mann, kugelte sich im Schlaf wie eine Kaulquappe.  Er kratzte an seinen Raubvogeltätowierungen und zerschlug mit seinem berühmten Kinn den Bettpfosten. Er bäumte sich auf und fiel wie eine Steinlawine zurück aufs Bettzeug. Er lag da, mit offenen Augen im Fernsehlicht und wachte nicht auf. Er stieß Arme und Beine in die Luft, stand kopfüber auf der Matratze und stieß seine Stiefel gegen die Zimmerdecke, er stand auf seinem berühmten Kinn und drehte sich um sich selbst, Kälte- und Hitzewellen schossen durch sein eisernes Muskelfleisch, er plantschte willenlos im Fieberwasser und die Raubvogeltätowierungen flimmerten wie kolossale Abziehbildchen auf seiner röchelnden Brustmuskulatur. In seinem nackten Schädel formierten sich donnernde Guillotinen, surrende Säbel und hackende Beile zu martialischen Paraden. Bruce, der riesenhafte, bis auf die Stiefel nackte, ganzkörpertätowierte Mann biß ohnmächtig ins Kopfkissen, zerbiß das Kopfkissen und lag breitbeinig auf dem Bett in einer Wolke aus Daunenfedern, er riß das Bett um, lag unter dem Bett, stieß das Bett gegen die Wand, wo es zerschellte, Sprungfedern und Holzsplitter prallten an seinem eisernen Muskelfleisch ab, der Bildschirm zersplitterte und das blaue Licht verpuffte. Manchmal grölte er „Sally!“, dann  wieder kam ein rohes Schmatzen aus seinem roten, aufgeblähten Zuckermund und pausenlos hämmerte das berühmte Kinn in die Luft.

Als es nach vielen Stunden dämmerte, die Strahlen des Leuchtturms von Portland Bill erloschen, und Bruce, zerschmettert von der nächtlichen Folter in den Trümmern des Zimmers erwachte, hatte er keinen Kopf mehr.

 

5

Er fühlte es deutlich. Mühsam richtete er sich auf. Er wedelte mit seinen Händen durch den leeren Raum über seinem Halsstumpf. Sein Kopf war fort. Bruce versuchte aufzustehen. Taumelte. Stürzte. Kaum konnte er etwas erkennen, ohne Kopf erschien ihm die Welt milchig, trüb und dumpf.  Er klopfte mit dem Bambusstab gegen seinen Halsstumpf. Tastete nach dem Jeansmantel und der Lederhose. Hangelte sich zur Tür. Widerwillig ging er hinaus auf die Straße, denn er war ein hartgesottener, raubvogeltätowierter Mann im Jeansmantel, er brauchte seinen Kopf mit dem berühmten Kinn.

„Verdammt!“ fluchte er mit dumpfer, kaum hörbarer Stimme, eher einem stotternden Gurgeln in der Tiefe seines Halsstumpfes. Er schlug das Schaufenster eines Tabakladens ein, weil er gerne geraucht hätte.

„Es ist alles so verdammt.“ Keiner hörte ihn. Kopflos ging Bruce durch die Straßen von Easton. Er ruderte durch das milchig trübe Licht seiner reduzierten Sinneseindrücke. Könnte Sally ihm helfen? Passanten, die er mit gurgelndem Halsstumpf nach der Straßenbahn fragte, wandten sich empört ab. Keiner wollte mit einem Kopflosen sprechen. Alle machten einen Bogen um ihn.  „Keine Zeit! Zu kompliziert! Ich verstehe Sie nicht!“ riefen sie ihm schon von weitem zu. Normalerweise hätte Bruce sie mit seinem berühmten Kinn folgenschwer verkrüppelt, aber jetzt war er hilflos ihren verächtlichen Blicken ausgesetzt.  Er irrte durch Easton.  Vormittags. Mütter schirmten ihre Kinder vor der kopflos taumelnden Gestalt im wehenden Jeansmantel ab. Frisör, Fischhändler, Plattenladen, Pubs, Läden für Bootszubehör, Gemüsemarkt, alles war geöffnet, die Menschen strömten hindurch, und Bruce, der brutale Mann ohne Kopf, stolperte dumpf durch die Straßen von Easton.

Die Straßenbahnklingel!

Sally!

Bruce taumelte, seine Absätze knallten auf dem Asphalt, er kippte gegen kreischende Passanten, fuchtelte mit  dem Bambusstab und rannte gegen die Straßenbahn. Sally erkannte ihn sofort. Sie bremste, klingelte, half ihm beim Einsteigen und führte ihn zum Behindertenplatz. Bruce hielt den Bambusstab hoch. „Ich habe Hunger!“ gurgelte es in seinem Halsstumpf.

„Ich weiß, Mister“ sagte Sally, und blickte amüsiert durch die Straßenbahn mit den vielen Frauen, die in ihren schmackhaften Illustrierten blätterten, „aber Mister, wie soll das gehen, ohne Kopf?“

Bruce ließ den Bambusstab fallen und kippte stumm nach vorne.  Munter strich Sally ihm über den Halsstumpf, blickte  auf ihre kindliche  Art hinein und kicherte „Oh, Mister!“

Dann fuhr sie los Richtung Fortuneswell, Chiswell und Weymouth. Sie mußte den Fahrplan einhalten. Die anderen Fahrgäste taten so, als sähen sie den kopflosen Mann im Jeansmantel nicht, auf den Sally immmer wieder beruhigend einredete.

Bruce saß den ganzen Tag auf dem Behindertenplatz. Weymouth - Portland Bill - Weymouth.

In der Nacht bremste Sally an der Steilküste von Church Ope Cove. Bruce kippte in den Gang. Sally ließ die Kurbel einrasten und drückte einige Knöpfe auf dem Armaturenbrett. Scheinwerfer und Innenbeleuchtung erloschen. Der Stromabnehmer faltete sich zusammen.

„Das war’s!“ rief sie in die Stille der abgeschalteten Straßenbahn.

Sie war es leid. Bruce wollte ihr wieder einfache Fragen stellen, wie vergangene Nacht und gurgelte mühsam in seinem Halsstumpf, aber Sally winkte, ab, sie stieg über ihn, kletterte nach draußen und war schnell, auf ihre kindliche Art hopsend, Richtung Bottom Coombe Quarries für immer verschwunden.

 

 6

Bruce lag die ganze Nacht in der Straßenbahn. Im Morgengrauen erschienen einige Männer und stießen ihn lachend hinaus.

„Sally?“ gurgelte Bruce in seinem Halsstumpf, als er sich dicht am Abgrund aufrichtete.

„Schluß jetzt!“, riefen ihm die Männer zu, machten einige vage Gesten und begannen, die Straßenbahn auseinander zunehmen, die Sitze aufzuschlitzen, sie schraubten den Stromabnehmer ab und die Kurbel, einer löste den Klingelkopf aus der Halterung,  sie zerschlugen den Scheinwerfer, die Blinklichter und Fensterscheiben, dann begannen sie die Schienen aufzurollen, rissen die Schwellen aus der Verankerung, warfen alles die Steilküste hinunter und schoben den völlig demolierten Straßenbahnwagen hinterher,  der donnernd in die Tiefe stürzte. Hilflos stolperte Bruce fort.  Das Wrack der Straßenbahn drehte sich in der heranrollenden Flut, schlug krachend an die Felsen.  Die Schienenstränge bäumten sich in den Wellen auf. Die Schwellen trieben hinaus aufs Meer.

 

7

Bruce wanderte durch Portland.  Auf immergleichen Bahnen durchquerte er die Insel. Die Kopflosigkeit, der Regen, die Kälte, Sturm und Hitze begannen den ehemals so brutalen Mann aus eisernem Muskelfleisch zu entkräften und auszulaugen. Der Regen prasselte auf die Raubvogeltätowierungen. Die Lederhosen wurden schwammig.  Die Sonne bleichte den Jeansmantel aus, zog die aufgequollene Lederhose wieder zusammen, machte sie spröde und die Raubvogeltätowierungen brüchig. Bruce begann zu verrotten.   Am Strand fand er einen  gelben Gummihandschuh, den er über seinen Halsstumpf zog, zum Schutz gegen die Kälte, Nässe und Insekten. Tagsüber kroch er in die verlassen Stollen der Steinbrüche von Yeolands und wälzte sich im Steinstaub, oder  er lag in einer Höhle an der Steilküste von Blacknor.  Er kletterte von Castletown aus hinauf zum Tunnel, der ins Innere von The Verne führte, dem Krater von Portland.  Aber sobald er am Tunnel auftauchte, schlugen in der Dunkelheit die Polizeihunde an, mit glühenden Augen und geifernden Lefzen, sie rissen an ihren Ketten, Bruce  wurde von einem Aufseher mit Steinen beworfen und verjagt, er taumelte die Kraterwand hinunter, kippte ins Dornengestrüpp und wurde von den Möven attackiert, die ihm den Gummihandschuh vom Halsstumpf ziehen wollten. Er wühlte sich durch die Kieselsteine des Chesil Beach, und wenn er durch die Swannery huschte, dann wirkte sein Halsstumpf so billig in mitten der sich empört reckenden, stolzen Schwanenhälse. Er umkreiste die Ortschaften in weiten Abständen, ausgemergelt, verhungert und ausgehöhlt von der wilden, unerfüllbaren Sucht nach frisch gedruckten Frauenillustrierten. Die  Raubvogeltätowierungen hingen in kralligen Fetzen an ihm herunter. Die Bewohner von Portland ließen ihn in ruhe, denn er tat keinem mehr etwas zuleide, die Brutalität seines eisernen Muskelapparates und die Schlagkraft seines berühmten Kinns waren einer ruhelosen, morschen Körperattrappe mit fünfzitzigem Gummikopf gewichen. Schlaflose Frauen und Männer standen nachts an ihren Fenstern und warteten auf ihn, und wenn er auf seiner Bahn auftauchte und sein Gummikopf im Mondlicht zuckte wie ein Signal, das zu einer perversen Reise einlud, winkten sie ihm zu und blickten ihm lange nach. Der Jeansmantel bleichte aus, wurde weiß und fleckig, mit verkrustetem Saum, die singenden Beschläge der Absätze verrosteten, die Absätze brachen ab, aus den stolzen Stiefeln mit den eingearbeiteten Raubvogelkrallen wurden morsche Lederlumpen. Der Nietengürtel rutschte von seiner Hüfte und zerfaserte. Die lippenförmige Plastikschnalle lag in den Felsen von Blow Hole und behielt jahrelang ihre frische Fleischfarbe. Die weiten Felder von Sweet Hill durchmaß Bruce mit seinen seitlich und rückwärts einknickenden Knochenbeinen in der abgeschmirgelten Lederhose, er kippte über die Abhänge von Branscombe, und die Häftlinge des Jugendgefängnisses pfiffen, johlten und schlugen mit Löffeln gegen die Gitterstäbe, wenn er an der Gefängnismauer auftauchte. Erschöpft lehnte er am Pulpit Rock, in der Tiefe seines abgedichteten Halsstumpfes gurgelten die Titel auflagenstarker Frauenillustrierten, und der Leuchtturmwärter von Portland Bill lauschte und nickte zustimmend.

Man gewöhnte sich an den abgeschabten Schattenmann, der immer wieder die Trasse der zerstörten Straßenbahn kreuzte, in steter Regelmäßigkeit die Insel durchquerte, der zunehmend verwahrloste und verweste.

 

8

In einer Nacht war Bruce am Strand von Weymouth. Seine einst scharf gestochene  Ganzkörpertätowierung aus Raubvogelmotiven war zu einer moorbraunen Fleckenhaut verkommen.  Jeansmantel und Lederhose schlotterten in farblosen Fetzen um seine verfallene Gestalt. Der Gummihandschuh rieselte in kleinen Krumen vom Halsstumpf. Das Meer war schwarz. Der  kalte Wind bließ Sicheln in den Sand. An einem Container blinkte eine Leuchtschrift:

The Penn and Nuckle Show

Bruce näherte sich dem Container und stolperte hinein.  Ein kleiner Raum mit Pritschen. Von einer Bühne in rotem Dämmerlicht, voller Korsagen, Nylonstrümpfe, Kosmetikkoffern und Wolken aus Unterröcken schauten ihn zwei Puppen an. Die eine, ein aufgerissener Schalltrichter mit knatternden Zähnen und schlenkernden Gliedern, die andere ein elegant geschliffener Bumerang in einem Kleid aus Plüschkugeln. Bruce kippte auf eine Pritsche. Schalltrichter und Bumerang schlugen mit lautem Knall gegen einander und sprangen in ein Korsett.

„Ah, der Mann ohne Kopf,“ knatterte der Schalltrichter, und der Bumerang ziepte „Der Illustriertenfresser. Lange her!“

Bruce neigte sich nach vorne. Die Puppen steckten in dem Korsett wie in einem Eimer. Sie tuschelten miteinander.

„Wie das aussieht!“

Hämisch zeigten sie auf den Halsstumpf. Sie sprangen aus dem Korsett und setzten sich an den Bühnenrand.

„Ich bin Nuckle,“ ziepte der Bumerang und bauschte sein Plüschkugelkleid auf.

„Und ich – Penn,“ knatterte der Schalltrichter.

The Penn and Nuckle Show,“ wiederholten sie zusammen, knatternd und ziepend, knallten gegeneinander und machten eine maliziöse Verbeugung. Bruce applaudierte schwach. Penn und Nuckle kamen von der Bühne herunter, um ihn von nahem zu betrachten.

„Sieht schlecht aus,“ knatterte Penn. Nuckle lüpfte den verrotteten Jeansmantel.

„Sehr schlecht,“ stimmte er zu.

Sie schwangen sich zurück auf die Bühne und verschwanden völlig im Korsett. Sie tuschelten lange, erschienen wieder, schlugen gegen einander, setzten sich auf einen Kosmetikkoffer und schauten Bruce an.

„Und jetzt?“

Bruce, die morsche, kopflose Kreatur aus verwester Mechanik konnte sich kaum auf der Pritsche halten.

Penn knatterte: „Ob der das schafft?“

„Wir brauchen jemanden für unsere Show, ein Nummerngirl, kleine Tanzeinlagen, Kartenverkauf, Aufräumarbeiten, was so anfällt, kannst du tanzen, singen?“ ziepte Nuckle.

Bruce zuckte zusammen. Er gurgelte ein paar düstere Töne.

„Interessant,“ nickte Penn, „komm’ mal rauf!“

Ächzend kletterte Bruce auf die Bühne. Nuckle gab ihm ein Brett mit einer aufgemalten Zahl. Bruce hielt das Brett hoch, kippte nach vorne und gurgelte „Nummerngirl.“

„Gut, gut, passt! “

Penn warf ihm einen Kittel aus Plastik und ein Paar verspiegelte Moonboots zu.

 „Zieh’ das an!“

Bruce ließ die Fetzen von Jeansmantel und Lederhose fallen, rutschte aus den zerlumpten Stiefeln und zwängte sich in den Kittel, einen kalten, klirrenden, pinkfarbenen Plastikkittel, der bis ihm zu den Knien reichte. Er steckte seine mumifizierten Storchenbeine in die Moonboots.

„Und das!“ Nuckle band ihm eine Lampe an den  Halsstumpf und stülpte einen Globus darüber. Der Globus leuchtete. Deutlich waren die Kontinente zu sehen.

„Fertig!“ knatterte Penn, „und jetzt ... tanze!“

Nuckle ziepte eine einfache Melodie. Bruce machte ein paar steife Tanzschritte. Kippte und knickste. Er spreizte seine Arme wie Flügel und hielt seine verschlissenen Hände auf.

„Hier!.“ Penn gab ihm eine Sportzeitung und einen Besenstiel. „Etwas anderes haben wir nicht!“

Bruce bedankte sich trotzdem mit einem heftigen Knicks. Penn und Nuckle applaudierten.

„Nach draußen, nach draußen,“ Nuckle öffnete die Tür, und Penn schob Bruce hinaus. Die Nacht lichtete sich über dem Strand von Weymouth. Die Leuchtschrift blinkte blaß in der Morgendämmerung. Bruce drehte sich steif im Takt zu Nuckles ziependem Gesang, den Penn mit einem treibenden Geknatter unterlegte, Schalltrichter und Bumerang schlugen rhythmisch auf einander ein und Bruce klopfte mit dem Besenstiel auf die Sportzeitung.

Das Trio umkreiste den Container in vielen Runden.

Es wurde hell.

Penn und Nuckle ergänzten die Leuchtschrift mit Buchstaben aus Jeansstoff:

Special Guest:  Bruce.

Sie schlugen Silhouetten von Raubvögeln an die Wand.

Bruce tanzte alleine weiter im klirrendem Kittel. Der Globus nickte. Die Kontinente leuchteten. Das düstere Gurgeln war einem hellen Zirpen gewichen, als säße eine Zikade in seinem Halsstumpf. Die Ereignisse am Strand von Weymouth begannen ihn zu verändern. Penn und Nuckle verschwanden im Container und  probten ein neues Stück. Die Bühne war jetzt voller Hackklötze, Beile, Planeten und Sterne. Vom Schnürboden hingen Galaxien herunter wie Mullbinden. Die Griffe der Beile steckten in Lackstulpen, die Beile hatten Klingen aus Waschlappen, und die Hackklötze waren in glitzerndes Satin gehüllt. Die Sterne hingen an feinen Fäden und wurden von den Planeten umkreist. Penn trug eine Taucherglocke und ein rot bespritztes Henkerhemd, Nuckle hatte seinen Bumerang geschminkt und steckte in einem Seidenschlauch, er war zu einer Puppe von vollendeter Schönheit geworden.

Die Sonne ging auf.

Auf der Esplanade erschienen die ersten Zuschauer. Bruce eilte zum Container. Er winkte die Zuschauer hinein. Hinter dem Vorhang ertönte scharfes Geknatter und gellendes Ziepen, die Zuschauer drängten sich auf den schmalen Pritschen, der Vorhang öffnete sich, und mit einem dumpfen Schlag von Taucherglocke gegen geschminkten Bumerang begannen Penn und Nuckle ihr neues Stück.

Sie wirbelten durcheinander und jonglierten mit Beilen und Sternen. Sie hackten mit den Beilen in die Sterne, aber die weichen Waschlappen spalteten die Sterne nicht, sondern wischten sie zärtlich ab. Dazu erklangen klagende Geräusche aus dem Weltraum und das Scheppern ineinander krachender Sternenschiffe.  Zwischen den einzelnen Szenen trat Bruce auf, hielt das Brettchen hoch und zirpte „Nummerngirl.“ Knickste reizend im Kittel, schleuderte den Globus in alle Richtungen, schlug mit dem Besenstiel auf die Sportzeitung, kippte, schwankte und zuckte wie eine toupierte Hexe. Das Publikum tobte. In der Pause verteilte er Sternenkonfetti, Lakritzplaneten und Guillotinen aus Schokolade. Das Stück war ein rauschender Erfolg. Immer wieder musste Bruce auf die Bühne, das Brettchen mit der Zahl zeigen, „Nummerngirl“ zirpen und im Kittel knicksen.

Nach der Vorstellung lehnte er am Container. Penn und Nuckle räumten die Bühne auf.

Bis zum Beginn der nächsten Vorstellung hatte Bruce den Globus abgenommen und die Lampe an seinem Halsstumpf ausgeknipst

Der Wind wehte den Globus über den Sand.Bruce schlug in einem monotonen Rhythmus mit dem Besenstiel auf die Sportzeitung.

Leicht stieß der Globus an Sonnenschirme und Strandkörbe.

Der kalte Kittel reflektierte das Sonnenlicht.

In den Moonboots spiegelten sich das Meer, der Himmel, die Wolken, Tausende weißer  Schwäne, Trillionen blank polierter Kieselsteine, der Krater von Portland und das gähnende Tunnelmaul mit den geifernden Polizeihunden.

 

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